Die Zeit 1933 - 1945
Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland gehört
nicht zu den Teilen der Geschichte, in denen die Evangelisch-reformierte
Kirche sich durch besonderen Zeugenmut ausgezeichnet hätte. Das
verbindet sie mit manchen anderen deutschen Landeskirchen, die in
ähnlicher Weise ihr Weiterexistieren in größtmöglicher Anpassung an den
Staat suchten, das unterscheidet aber sie aber auch von solchen Kirchen
und Gruppen, die aus der Erkenntnis des Evangeliums die alleinige
Herrschaft Christi bekannten und damit dem Handeln des
nationalsozialistischen Staates widersprachen. Eine gründliche
wissenschaftliche Aufarbeitung des Weges der Evangelisch-reformierten
Landeskirche der Provinz Hannover (kurz: reformiert Hannover) in dieser
Zeit fehlt bisher leider; einige wesentliche Erkenntnisse und
Zusammenhänge zeigen aber doch ein deutliches Bild.
Die
Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 wird von den meisten
evangelischen Kirchen positiv gesehen und auch gewürdigt. Hintergrund
ist der Zusammenbruch des bisherigen Summepiskopats (das heißt eben,
dass der jeweilige Landesherr an der Spitze der Kirche stand) mit dem
Ende des ersten Weltkriegs 1918. Mit der Weimarer Republik hatten sich
die evangelischen Kirchen größtenteils nicht anfreunden können; die
Demokratie erschien in weiten Teilen der Kirche auch als
Nichtanerkennung der Herrschaft Gottes. Die recht unklaren auch
wirtschaftlichen Verhältnisse und die Distanz des Staates zu den Kirchen
zu Anfang der dreißiger Jahre wurden schlagartig geändert, als Hitler
Kanzler wird. Er zeigt sich zunächst als Freund der Kirchen und ist
vordergründig imstande, für Ordnung zu sorgen. Daß auch die
Kirchenleitung von reformiert Hannover den nationalsozialistischen Staat
jedenfalls im ersten halben Jahr grundsätzlich positiv beurteilt, geht
aus einem Schreiben des Landessuperintendenten Walter Hollweg an die
Pastoren vom 25. September 1933 hervor. Dort wird die Politik der
NS-Regierung gelobt für ihren Kampf gegen die Gottlosigkeit, die
Unsittlichkeit und den Egoismus. Das geschieht, obwohl im gleichen
Zusammenhang die Kirchenpolitik des NS-Staates abgelehnt wird. Seit dem
Frühjahr 1933 war versucht worden, das Führerprinzip in alle Bereiche
des Staates zu vermitteln (sog. Gleichschaltung) - eben auch in die
Kirchen. Die zersplittert wirkenden evangelischen Kirchen (es gab damals
28 deutsche evangelische Landeskirchen) sollen einen Bischof mit
weitgehenden Befugnissen bekommen. Dagegen protestiert die
Kirchenleitung, weil das Bischofsamt den Grundsätzen reformierter Lehre
widerspreche. Auch spricht sich der Landessuperintendent gegen die
Abwertung des Alten Testaments und ein arisches Christentum aus. Damit
steht der Landessuperintendent in der Linie der "Jungreformatorischen
Bewegung", die sich gegen die den Nationalsozialismus integrierenden
"Deutschen Christen" aussprechen und doch gleichzeitig den NS-Staat als
solchen theologisch bejahen und sogar Gottes Hand in ihm wirksam sehen.
Der grundsätzliche Einspruch Karl Barths in seiner Schrift "Theologische
Existenz heute!" vom Juli 1933 wird dagegen von der
Landeskirchenleitung nicht erwähnt. Hingegen wirkt Barths Aufruf zu
einer neuen theologischen Besinnung auf Sein und Aufgabe der Kirche auf
andere, vor allem auf Wuppertaler reformierte Pastoren. Sie drängen
gemeinsam mit anderen den Reformierten Bund, in dem auch die
Evangelisch-reformierte Kirche Mitglied war, Anfang Januar eine "Freie
reformierte Synode" in Wuppertal-Barmen abzuhalten, um sich auf einen
gemeinsam zu gehenden Weg zu verständigen. Auf der am 3./4. Januar
stattfindenden Synode nahmen auch zahlreiche Delegierte aus Gemeinden
von reformiert Hannover teil (insgesamt waren 320 Älteste und Prediger
aus 167 reformierten Gemeinden anwesend). Die Synode verabschiedet eine
von Karl Barth formulierte "Erklärung über das rechte Verständnis der
reformatorischen Bekenntnisse in der deutschen Evangelischen Kirche der
Gegenwart". Die Erklärung sieht z.B. in allen Dokumenten, die den
vorfindlichen Staat als solchen theologisch würdigen und also als
Geschenk Gottes bekennen, eine zweite Gottesoffenbarung neben der des
dreieinigen Gottes ausgesagt - und damit eine problematische und
gefährliche Einschränkung der biblisch bezeugten Offenbarung Gottes in
Jesus Christus. Die Erklärung ruft deshalb zur Selbstbesinnung und
Rückkehr zum rückhaltlosen Vertrauen auf den Herrn der Kirche auf. Im
Anschluß an die Synode findet auch eine Umbesetzung des Moderamens
(=Leitungsgremium) des Reformierten Bundes zugunsten der Befürworter
eines Weges im Sinne Karl Barths statt. Im Reformierten Bund, der
gleichsam die reformierten Kirchen und Gemeinden in Deutschland
repräsentiert, gibt es nun zwei mächtige Lager: einmal das neue
Moderamen (und mit ihm Pastoren und Älteste aus reformiert Hannover) und
auf der anderen Seite die Kirchenleitung von reformiert Hannover. Vor
allem der Jurist von reformiert Hannover, Otto Koopmann, vertritt
vehement die Auffassung, dass die Loyalität zum Staat für die Kirche
unaufgebbar ist und dass auch die kleine reformierte Landeskirche dann
am besten fahre, wenn sie sich nicht auf Fundamentalopposition begebe.
Der Versuch einer Einigung der verschiedenen Positionen auf einem
reformierten Konvent im April 1934 in Osnabrück scheitert. Demzufolge
entsendet reformiert Hannover auch keinen Vertreter zur Synode der
Deutschen Evangelischen Kirche vom 29.-31. Mai 1934 nach
Wuppertal-Barmen, wo sich die Bekennende Kirche gründet und die Barmer
Theologische Erklärung beschlossen wird (es sind lediglich Pastor
Oltmann und der Kirchenälteste Dr. Buurmann aus Loga im Auftrage des
ostfriesischen Coetus dabei). Im November 1934 gründet sich die
"Bekenntnisgemeinschaft innerhalb der Evangelisch-reformierten
Landeskirche der Provinz Hannover", um stellvertretend für die
Landeskirche die Beschlüsse der Bekennenden Kirche innerhalb der
Landeskirche zu vertreten. Die Landeskirchenleitung ist unterdes darum
bemüht, der Landeskirche die Selbständigkeit zu erhalten und sie vor der
Zwangsvereinigung mit der Reichskirche zu bewahren. Das gelingt ihr
auch, denn auf der Nationalsynode im August 1934 wird ein reformiertes
Sondergesetz beschlossen, das reformiert Hannover die Selbständigkeit in
Sachen Bekenntnis und Kultus zugesteht. Jedoch sehen die
Bekenntnisgemeinschaft und auch Teile des Moderamens des Reformierten
Bundes einschließlich Karl Barth dieses Gesetz durch die Unterordnung
unter eine dem NS-Staat ergebene Kirche erkauft und deshalb für falsch.
Der Landeskirche droht eine Zerreißprobe. Auf der einen Seite schließen
sich der Bekenntnisgemeinschaft immer mehr Pastoren und Älteste an, so
dass sie zu einer ernstzunehmenden Größe in der Landeskirche wird. Und
auf der anderen Seite ist die Landeskirchenleitung darum bemüht, dass
sich alles in ihr ruhig verhält, um keinen Anstoß zu erregen. Im Oktober
1934 erklärt die Landeskirche offiziell ihre Solidarität mit der
deutschen Nationalkirche und hofft, damit einen wichtigen Dienst "für
Volk und Führer" zu leisten (dokumentiert in der RKZ Nr. 44 vom
4.11.1934, 368). Damit wird deutlich, dass sich die Landeskirche mit den
neuen Machtverhältnissen arrangiert hat. Diese Politik hat zur Folge,
dass sich die Kirchenleitung deutlichen Vorwürfen seitens der vor allem
in Wuppertal beheimateten Vertretern im Reformierten Bund um den aus
Ostfriesland stammenden Karl Immer ausgesetzt sieht: Sie sehen die
Landeskirche reformiert Hannover auf einem Irrweg. Auf einer Tagung in
Detmold 1934 beschließt der Reformierte Bund, dass dem Moderamen nur
solche angehören dürfen, die die Bekennende Kirche und nicht die
Reichskirche als rechtmäßige Kirche anerkennen. Daraufhin erklärt der
Landessuperintendent Walter Hollweg als Vertreter von reformiert
Hannover seinen Rücktritt aus dem Moderamen. Ein Versuch von Karl Barth
und dem Uelsener Pastor Peter Schumacher, die Landeskirchenleitung auf
eine dem Bekenntnis entsprechende Kirchenpolitik hin zu bewegen, findet
in den "Uelsener Thesen" Zustimmung von Landeskirchenvorstand und auch
später vom Landeskirchentag, aber es findet seitens der Kirchenleitung
keine praktische Umsetzung im Sinne der Bekenntnisgemeinschaft statt.
Auch innerhalb der Landeskirche verschärfen sich die Spannungen, weil
die Mitglieder der Bekenntnisgemeinschaft zur Landeskirche gehören und
theologisch den Kurs des Reformierten Bundes fahren. Spätestens ab 1936
muß man von einem getrennten Weg beider reformierter Richtungen
sprechen. Auf der zweiten reformierten Synode 1935 in Siegen war die
Kirchenleitung schon nicht mehr vertreten, hingegen viele Delegierte aus
den Gemeinden der Evangelisch-reformierten Kirche. Aber es gab auch den
Rücktritt einiger Gemeinden aus dem Reformierten Bund aufgrund seines
deutlichen Kurses. Solche Gemeinden schlossen sich mit der
Landeskirchenleitung von reformiert Hannover und der Lippischen Kirche
zu einem "Arbeitsausschuss der Reformierten Kirchen Deutschlands" (1936)
zusammen; die theologische Federführung lag beim Göttinger reformierten
Theologieprofessor Otto Weber. Damit hatten sich zwei konkurrierende
reformierte Gremien ergeben, die mit unterschiedlichen theologischen und
daraus folgend kirchenpolitischen Konsequenzen agieren. Der
Kirchenausschuss plante sogar die Errichtung eines eigenen
Predigerseminares in Göttingen. Koopmann wird 1936 reformiertes Mitglied
im Reichskirchenausschuß. Innerhalb der Landeskirche gibt es einige
Pastoren, die aufgrund ihres Eintretens für die Inhalte der Bekennenden
Kirche Schwierigkeiten mit staatlichen Stellen bekommen. Die
Landeskirchenleitung hat in mehreren Fällen diese Pastoren nicht
unterstützt (vor dem zweiten Weltkrieg z.B. Middendorf / Schüttorf,
Steen / Holthusen; im zweiten Weltkrieg z.B. Bernds / Uelsen, de Boer /
Emlichheim). 1939 brach der zweite Weltkrieg aus. Staatliche Maßnahmen
gegen die Kirchen und ihre Mitglieder wurden weitgehend widerrufen, so
dass seitens der Kirchen von einer Entspannung geredet wurde. Viele
Pastoren der Bekennenden Kirche und auch einige aus der
Bekenntnisgemeinschaft in reformiert Hannover wurden zum Wehrdienst
eingezogen bzw. meldeten sich freiwillig. 1941 betonte der Staat so
deutlich wie nie vorher die Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und
Christentum verbunden mit dem Ziel, alles Religiöse aus dem öffentlichen
Leben zu verbannen, u.a. durch Abschaffung des Religionsunterrichts
oder kirchlicher Meldungen in der Tagespresse. Das frühere Ziel einer
einheitlichen deutschen Reichskirche wird jetzt aufgegeben, jetzt wird
die Zersplitterung unterstützt, um den Einfluß der Kirchen zu
vermindern. Die Kirchenleitung in Aurich schließt sich 1943 den
Einigungsbestrebungen des Landesbischofs Wurm an. Damit wollte Wurm
durch Bezugnahme auf Schrift und Bekenntnis an den Auftrag und Dienst
der Kirche erinnern. Man wird hier Ansätze erkennen können, die die
Eigenständigkeit der Kirche aufgrund theologischer Besinnung betonen. Es
gibt aber keine organisatorischen Konsequenzen. Nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs war es eine wichtige Aufgabe, die verschiedenen
Richtungen in der Kirche, die sich bis 1945 zum Teil erbittert
gegenübergestanden hatten, in ein gemeinsames Gespräch zu bringen, was
gelang. Neuer Landeskirchenpräsident wurde 1946 Friedrich Middendorff,
der führendes Mitglied der Bekenntnisgemeinschaft gewesen war.