Wie entsteht der Gänsehauteffekt?

Ein Gespräch mit dem Kirchenmusiker und Musiktherapeuten Matthias Michalek

Warum rührt Musik den Menschen überhaupt an, und wie rührt sie ihn an?
Musik ist in der Lage, die unterschiedlichsten Stimmungen des Menschen direkt zum Ausdruck zu bringen, noch bevor sie sein reflektierendes Bewusstsein erreicht haben. Wir haben oftmals einen ganz unmittelbaren Zugang zur Musik, fühlen uns erfreut, getröstet, angeregt, aufgeregt oder entspannt, wenn wir Musik hören. Musik kann das Spannungsverhältnis der verschiedenen Stimmungen nachzeichnen, ihre Bewegtheit und ihren ständigen Wechsel, dem wir eben nicht äußerlich gegenüberstehen, sondern in den wir selbst mit eingebunden sind. Das spricht den Menschen ganz unmittelbar in seinen tiefsten Schichten an. So kann in der Musik die Leichtigkeit des Kinderspiels hörbar werden ebenso wie die Schwere der Trauer, die Melancholie und das Unerfüllte genauso wie die stolze Freude und ein erhebendes Erweitert-werden.

Kann Musik das Göttliche transportieren?
Wo die Worte enden und wir an die Grenze des Sagbaren gelangen, beginnt die Musik. Ihr ist es möglich, etwas hörbar, fühlbar und in diesem Sinne auch verstehbar zu machen, was unsere Verstandestätigkeit übersteigt. In dieser Offenheit entsteht Raum für das Transzendente. Das reine Reden von Gott gelangt dort an eine Grenze, wo sich das Transzendente einer exakten begrifflichen Fassung und einer verstandesmäßigen Einordnung entzieht. Hier tut das Reden gut daran, über sich selbst hinaus zu weisen – und das geschieht, in dem es zur Dichtung wird - oder zur Musik. In der Musik kann das Transzendente anders zu Erscheinung gelangen, da die Musik selbst Vollkommenheit ist – in ihrer harmonischen Gesetzmäßigkeit, ihrer rhythmischen Strukturiertheit und ihrer melodiösen Fügung. So ist Musik selbst ein Abbild des Göttlichen, ohne oder noch bevor sie von Gott redet.

Was kennzeichnet die Orgel als besonders bedeutendes Instrument der Kirchenmusik?
Für den religiösen Ritus gibt es vor allem zwei Gründe, die die Orgel qualifizieren: Zum einen kann die Orgel alle Klangfarben nachzeichnen und imitieren. Register wie Streicher, Bläser, Flöten, Zimbel oder Zungenpfeifen geben die Fülle eines ganzen Orchesters wieder. Die Orgel kann nahezu alle Facetten des Klanglichen darstellen. So kann sie sowohl den lauten Jubel hervorbringen wie auch die sanfte Beruhigung oder die herzzerreißende Klage und ist so in der Lage, die Fülle des religiösen Empfindens darzustellen. Dass sie die Kirchenmusik so dominiert, liegt eben an dieser Vielschichtigkeit, die sie sowohl als Soloinstrument, wie auch optimal als Begleitinstrument qualifiziert. Zudem kann sie durch ihre klangliche Fülle große Kirchenräume optimal ausfüllen.  

Hat das Musikmachen in der Gemeinschaft eine andere Wirkung als das alleinige Musizieren?
Natürlich kann es erfüllend sein, für sich alleine zu musizieren, genauso wie wir mit uns selbst im Gespräch sein können. Und doch bedeutet es eine ganz andere Erfüllung, in Dialog zu treten mit einem Gegenüber. Auch im Musikalischen entsteht im idealen Falle ein Dialog: Der Mitmusizierende ist dabei entweder Ergänzung und Unterstützung (im Chor oder bei der Begleitung eines Instruments) oder Kontrapunkt (wie etwa in der freien Improvisation). In der Therapie wie auch in der Kirchenmusik können Menschen diese Bereicherung und Erfüllung eines gemeinsamen Musizierens erleben, wobei im therapeutischen Kontext das Moment des Hinführens zu eigener Gestaltung, zum Selbstentwurf stärker im Vordergrund steht. Die schönste Erfahrung im gemeinsamen Spiel ist wohl, dass über alle Unterschiede hinweg eine Gemeinsamkeit entstehen kann, in der die Individualität weder untergeht noch im Vordergrund steht: Das Eigene wird aufgehoben und getragen von der Musik selbst.

Hat Ihre Arbeit als Musiktherapeut Sie als Kirchenmusiker verändert?
Ja, auf verschiedene Weise. Im Studium zum Musiktherapeuten habe ich mich freigespielt. In der freien Improvisation, wie ich sie in der Musiktherapie erlernt habe, konnte ich für mich gewinnen, ganz meiner musikalischen Intention zu folgen, ohne auf stilistische Reinheit oder kompositorische Vorgaben zu achten. Ich kann so viel mehr Facetten zum Ausdruck bringen. Die Bedeutung des Singens wiederum habe ich aus der chorleiterischen Tätigkeit wertschätzen gelernt, was ich wiederum in meine therapeutische Arbeit einbeziehen kann; denn das Singen ist der unmittelbarste musikalische Ausdruck des Menschen. Zudem hat mich die therapeutische Arbeit gelehrt, Musik als eine existenzielle Ausdrucksweise des Menschen zu wertzuschätzen, die es ihm ermöglicht, Zugang zu sich selbst, seinen Gefühlen und Gedanken zu gewinnen. Das ist sowohl im rituellen Zusammenhang wichtig, wie etwa im Gottesdienst, als auch im emotional-therapeutischen, wie in der Trauerbewältigung.

Interview: Ulf Preuß

Matthias Michalek (47) studierte Kirchenmusik an der Folkwang Hochschule in Essen. Sein Studium der Musiktherapie an der Uni Witten-Herdecke schloss er 1994 ab und arbeitet seitdem in einer eigenen Praxis in Oberhausen. In einer evangelischen Kirchengemeinde in Essen leitet er einen Chor und spielt Orgel.
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