Zum Tod von Orgelbaumeister Jürgen Ahrend
Zur dankbaren Erinnerung an den Orgelbaumeister Jürgen Ahrend
In großer Dankbarkeit erinnern wir uns an das reiche Lebenswerk des Orgelbaumeisters Dr. h.c. Jürgen Ahrend, der am 28. April 1930 in Göttingen geboren wurde und am 1. August dieses Jahres in Leer im 95. Lebensjahr verstarb.
Von Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema (1927-1992) ging im 20. Jahrhundert der wichtigste Einfluss auf den Orgelbau in Ostfriesland und auch auf den Orgelbau weltweit aus, ohne den wir heute kaum in dieser Weise von der „Orgellandschaft Ostfrieslands“ sprechen würden.
Nach einer von den Kriegsjahren geprägten Kindheit haben die beiden jugendlichen Männer den Orgelbau in der Werkstatt von Paul Ott in Göttingen gelernt und zählten zu dessen hoffnungsvollsten Mitarbeitern. Orgeln von Paul Ott im Stile des neu entdeckten Barockideals, das wir heute als „Neobarock“ bezeichnen, waren in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg so sehr begehrt, dass Paul Ott kaum mit der Lieferung nachkommen konnte. Unter großem Zeit- und Kostendruck entstanden in rascher Folge neue Orgeln und wurden auch Orgeln nach dem damaligen Stand des Wissens umgebaut oder restauriert.
Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema erkannten bald, dass in diesem Dauerlauf höhere Ziele nicht erreichbar waren und beschlossen, sich selbstständig zu machen. Im Jahr 1954, vor 70 Jahren, wurde die Werkstatt in Leer gegründet. Neben den vielen erhaltenen Orgeln in Ostfriesland wird es auch eine Rolle gespielt haben, dass Gerhard Brunzema von hier stammte. Nach den Anfangsjahren entstanden die heutigen Gebäude am Mühlenweg in Loga, deren Besuch inzwischen für Organisten und Orgelbauer aus aller Welt zu einem erhabenen Moment geworden ist.
Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema stellten den Klang in den Mittelpunkt aller Anstrengungen um den Erhalt wertvoller alter Orgeln und den Bau neuer Instrumente. Sie haben in den Anfangsjahren den Klangaufbau auch messtechnisch analysiert und eine systematische Grundlage für den einzigartigen Klang ihrer Orgeln geschaffen. Auch alle anderen Aspekte des Orgelbaus, der Mechanik, der Windladen und der Gehäuse wurden mit der Zielvorstellung feinster Spielart und nahezu wartungsfreier Genauigkeit und Dauerhaftigkeit konzipiert.
Die Klangschönheit der Arbeiten und die funktionale Qualität waren von Anfang an das Markenzeichen der Werkstatt. Bis heute haben die ersten Restaurierungen in den evangelisch-reformierten Kirchen von Emden-Larrelt (1954) und Westerhusen (1955) nichts von ihrer begeisternden Wirkung verloren. Die Restaurierung der Jost Sieburg-Orgel in Westerhusen mit ihrer Einstimmung in mitteltöniger Temperatur war für bedeutende Musiker ein absolutes Schlüsselerlebnis, ein Erlebnis eines Paradigmenwechsels.
Die jungen Orgelbauer Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema schafften es, bisherige Konventionen im Orgelbau umzukehren. Denn leider wurde an vielen Orten wertvolle Originalsubstanz verworfen und wurden moderne Standard-Spieltische und Trakturen eingebaut. Es wurde sogar historisches Pfeifenwerk als bloßes Material hergenommen und gravierend verändert. Damit blieben von den historischen Orgeln nur ein verblasster Klang oder mancherorts sogar nur die Fassade übrig.
Orgelsachverständige mit großem Einfluss hatten sich den Dogmen der „Orgelbewegung“ verschrieben, von denen wir rückblickend wissen, dass viele davon völlig fehlgeleitet waren. Jürgen Ahrend und Gerhard Brunzema haben den Mut aufgebracht, sich dieser Dogmatik entgegenzustellen. Für ihr Tun erfuhren sie auf der einen Seite viel Bewunderung und Anerkennung, von der Gegenseite jedoch auch polemische Ablehnung. In Ostfriesland wurden die ältesten und kostbarsten Orgeln auf diese Weise gerettet, sodass deren Klang als Botschafter in alle Welt ausgeht, Organisten und Orgelbauer inspiriert.
Schon fünf Jahre nach der Werkstattgründung erreichten die jungen Orgelbauer mit dem Bau der dreimanualigen Orgel für die Zorgvlietkerk in Scheveningen den internationalen Durchbruch. Dass diese Orgel durch den unermüdlichen Einsatz von Albert Kretzmer im Jahre 2016 in die katholische Kirche St. Marien transloziert werden konnte, war eine große Freude für Jürgen Ahrend.
Im Jahr 1971 trennten sich die beiden erfolgreichen Kompagnons, wobei Jürgen Ahrend die Werkstatt am Mühlenweg behielt und Gerhard Brunzema nach Kanada auswanderte. Bei aller Genialität in der Zusammenarbeit kamen mit der Zeit offenbar auch trennende Ansichten hervor, die diesen schmerzlichen Schritt zur Folge hatten.
Seither ist die Werkstatt unter dem Namen Jürgen Ahrend Orgelbau bekannt. Bedeutende Orgelrestaurierungen schlossen sich an: Stade St. Cosmae (1974), Innsbruck Hofkirche (1976), Groningen St. Martini (1977, 1984), Neubau in Melbourne, Australien (1979), Lüdingworth (1982), Norden (1985), Stade St. Wilhadi (1988-90), Hamburg St. Jacobi (1993), Osteel (1995), Dornum (1998), Kongsberg (2000), der Neubau in Leer Lutherkirche (2002), Altenbruch (2003).
Jürgen Ahrend hat sich für den Denkmalschutz nicht nur in Orgelfragen engagiert. Er setzte sich mit anderen Leeraner Bürgern in den 1970er Jahren erfolgreich dafür ein, die Altstadt zu erhalten und verheerende Umgestaltungspläne abzuwenden. Für das Steinhaus in Uttum hat er für einen langen Zeitraum die Verantwortung getragen und zu dessen Erhalt beigetragen.
In den Jahren 2006 und 2007 ergab sich für mich die wunderbare Gelegenheit, in einem Dokumentationsprojekt mit Jürgen Ahrend das historische Pfeifenwerk der Orgel in der Großen Kirche zu Leer zu untersuchen. In diesen Wochen und Monaten nahm er die Vermessung der Pfeifen vor, während ich die zahlreichen Tonbezeichnungen (Inskriptionen) auf den Pfeifen fotografierte und in großen Listen nachzeichnete, sodass Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte nachvollzogen werden konnten. Die über 400-jährige Geschichte der Orgel, die bereits in vorreformatorischer Zeit im Kloster Thedinga begann, konnte daran nachvollzogen werden. Ich erinnere mich an das gemeinsame Enträtseln ungeklärter Fragen, an ein fröhliches Miteinander, an das gedörrte Obst aus seinen Gärten, das er in Pausen mit mir teilte.
Damals mussten wir mit Bedauern feststellen, wie das historische Pfeifenwerk durch die Arbeiten von Paul Ott in den Jahren 1953-1955 stark verändert worden war, wie manche Pfeifen nur noch das Material für neu zugeschnittene Pfeifenkörper hergeben mussten. Dennoch habe ich in all den Jahren von Jürgen Ahrend nie ein schlechtes Wort über seinen Lehrmeister Paul Ott vernommen. Vielmehr Verständnis für die Umstände jener Jahre, die ihn und Gerhard Brunzema schließlich ermutigten, einen eigenen Weg zu gehen.
Eine besondere Freude war es sicherlich für Jürgen Ahrend, dass die Werkstatt, die seit 2005 von seinem Sohn Hendrik Ahrend geleitet wird, in den Jahren 2014-2018 die Orgel in der Großen Kirche grundlegend restaurieren konnte.
Rückblickend können wir erkennen, dass all jene Gemeinden glücklich zu preisen sind, die sich für Restaurierungen oder Neubauten aus dem Hause Ahrend entschieden haben.
Gott verleiht Menschen besondere Begabungen und er führt sie an Orte, wo sie diese Gaben benötigt werden. Dies können wir dankbar im Tun und Wirken von Jürgen Ahrend ablesen, der mit einzigartiger Begabung und mit unendlichem Fleiß Orgeln in den Kirchen restauriert und neu erbaut hat, die in unvergleichlicher und fast unvergänglicher Weise der Verkündigung durch die Musik dienen.
Dies geschah nicht durch die Werkstattgründer allein, sondern auch durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in tiefer Verbundenheit und mit überragender Kenntnis an diesen Werken beteiligt waren und sind. Und wir können dankbar sein, dass sein Sohn Hendrik Ahrend diese Werkstatt auf weitere Höhen geführt hat und dass ihm diese Kraft und Begabung geschenkt ist, solch eine große Aufgabe auszuführen.
Die Orgeln der Orgelbauwerkstatt Ahrend & Brunzema und später Jürgen Ahrend Orgelbau werden in der Geschichtsschreibung späterer Jahrhunderte mit Sicherheit einen hohen Stellenwert beigemessen bekommen. Die frühen Werke werden in der kirchlichen und staatlichen Denkmalpflege heute bereits als Denkmalorgeln gewertet.
Wann immer seine Orgeln erklingen – möge ihr wunderbarer Klang die Herzen erheben und dankbare Erinnerung an ihren irdischen Schöpfer wecken. Am Ende seines erfüllten Lebens mag ein Vers von Paul Gerhardt Trost geben:
Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht,/ lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; / bist du doch nicht Regente, der alles führen soll, / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl. (EG 361,7)
Weener, 6. August 2024
Winfried Dahlke
In den Gemeinden der Evangelisch-reformierten Kirche künden folgende Instrumente von der Kunstfertigkeit der Werkstatt:
Ahrend & Brunzema (1954-1971)
1954 Emden – Larrelt Restaurierung
1955 Westerhusen Restaurierung
1956 Aurich (Lamberti) Orgelpositiv, dann Wolfsburg, heute Emden Harsweg / Bürgerhaus
1957 Uttum Restaurierung
1958 Heisfelde Neubau eines Orgelpositivs (heute Gemeindehaus Große Kirche)
1958 Grimersum Neubau
1958 Grimersum Orgelpositiv, dann Leybuchtpolder, heute Wybelsum (?)
1958 Hinte Neubau im Prospekt von J.Fr. Wenthin
1960 Freren Neubau im klingenden Prospekt von Heinrich Klausing (1699)
1961 Rysum Restaurierung
1962 Hoheellern Neubau
1962 Emden Schweizer Kirche Neubau
1964 Hatzum Neubau
1965 Wybelsum Neubau
1965 Gildehaus Neubau
1965 Georgsdorf Reparatur
1966 Leer Große Kirche Nachbearbeitung Hauptwerk und Pedal
1967 Bremerhaven Neubau
1969 Hamburg Altona Palmaille Neubau
1969 Loga Neubau
1969 Jennelt Restaurierung
1970 Uelsen Neubau
1971 Leer Große Kirche Nachbearbeitung der Rückpositive
Jürgen Ahrend Orgelbau (seit 1972)
1975 Hannover Herrenhausen Neubau (heute Kloster Möllenbeck)
1979 Weener Nachrestaurierung
1980 Simonswolde Restaurierung
1982 Weener Nachrestaurierung
1983 Georgsdorf Restaurierung
1985 Emden Schweizer Kirche Pedalwerk
1988 Emden-Larrelt Nachbearbeitung, Rekonstruktion der Prospektpfeifen
1990 Celle Hausorgel, heute ORGANEUM in Weener
1991 Pilsum Restaurierung
1994 Frankfurt Kirchenmusikhochschule, heute ORGANEUM in Weener
Hendrik Ahrend (seit 2005)
2004, 2008, 2012 Oldersum Neubau
2014 Möllenbeck Rekonstruktion, Restaurierung
2014-2018 Leer Große Kirche Rekonstrution, Restaurierung
2018 Rorichum Restaurierung
2020 Uttum Nachrestaurierung
2024 Loga Erweiterung um ein Rückpositiv